Mittwoch, 27. August 2014

Der Schläfer

Irgendwas scheint falsch zu sein an der Bezeichnung "Morgenland". Ja, die Sonne geht im Osten auf, aber der Araber merkt davon bis Mittag nichts. Denn erst wenn sie am Abend wieder untergeht, wird der arabische Gast aktiv. Vielleicht ist das seine Vorstellung von Urlaub im Abendland, und er hält sich allzu akkurat daran. Vielleicht liegt es auch daran, dass man in heißen Regionen tagsüber sowieso nicht viel machen kann, und das Leben dort eher am späteren Nachmittag beginnt und dafür bis spätnachts andauert. Mit unserem Verständnis von einem Werktag können Araber jedenfalls nur wenig anfangen. So erntet man immer wieder erstaunte Blicke, wenn man den Gästen, die um 17 Uhr noch mit der Seilbahn auf den Berg fahren wollen, erklärt, selbige sei schon geschlossen. Wann diese dann morgen wieder aufsperre, möchten sie dann oft wissen. An ihren Gesichtern lässt sich erkennen, dass halb 9 keine Uhrzeit ist, die für ihre Tagesgestaltung irgendeine Relevanz besitzt.

Legt man ihnen hingegen den dreimal wöchentlich stattfindenden Seezauber ans Herz, der erst um 10 Uhr abends beginnt, erhellen sich ihre Gesichter wieder. Doch die Araber können kaum glauben, dass in einem Land, in dem es Menschen geben soll, die schon um halb acht frühstücken, in dem man nach vier Uhr nachmittags so gut wie nichts mehr zu sehen bekommt und in dem um sechs Uhr Buslinien aufhören zu fahren, dass in so einem Land es also eine Veranstaltung geben soll, die erst um 22 Uhr anfängt. "10pm?", fragen deshalb viele ungläubig. Genauso ungläubig wie manche deutschen Gäste, denen das naturgemäß zu spät ist: "Ach, erst um zehn? Ne, das schaffn'wa nich mehr!" Tja, unterschiedliche Kulturen, unterschiedliche Tagesrhythmen...

Die Schlafhungrigkeit unserer arabischen Gäste führt aber nicht nur dazu, dass viele von ihnen das Frühstück versäumen. Manch einer, der von österreichischer Marmelade und Liptauer so angetan ist, dass er sich doch vor halb 10 aus dem Bett quält, geht kurzerhand nach dem Frühstück wieder schlafen. Von einer erzieherischen Sorgfalt gepackt, ermahnt man den Gast, er solle doch zeitig aus dem Haus gehen, sonst würde er wieder zu spät zur Seilbahn kommen. "But I sleep so good!", heißt es dann entschuldigend, und da ist man dann als Vermieter ja auch wieder froh. Solange der Gast freiwillig um des Schlafes willen die Sehenswürdigkeiten auslässt, ergibt sich ja noch kein Problem. Erst, wenn er versucht, beides unter einen Hut zu bekommen, tauchen gewisse Schwierigkeiten auf.

So fragte mich ein Herr, dessen Frau tagelang alleine zum Frühstück erschienen war, weil der Göttergatte bis 14 Uhr zu schlafen pflegte, ob ich ihm ein Taxi organisieren könnte, er wolle nämlich gerne zur Eisriesenwelt nach Werfen fahren. Am Telefon sagte mir der Taxiunternehmer, dass eine solche Fahrt natürlich möglich sei, man allerdings mit sehr langen Wartezeiten rechnen müsse. Während der Hauptsaison könne es nämlich manchmal vier Stunden dauern, bis man überhaupt in die Eishöhle hinein käme. Es gelte also, die Fahrt rechtzeitig, nämlich so früh wie möglich anzutreten, weil besagte Eishöhle um fünf schließe.
Ich teilte dies dem Gast mit und betonte, mit Rücksicht auf seine speziellen Schlafgewohnheiten, besonders den Teil mit der frühen Abfahrt. "Aha", sagte dieser nur, und dass er dann wohl erst morgen diesen Ausflug werde machen können.

Am nächsten Tag wartete ich den ganzen Vormittag auf den Schläfer und war gespannt, ob er seinen Plan in die Tat umsetzen würde. Als seine Frau nach dem Frühstück wieder ins Zimmer verschwand und von ihrem Gatten auch bis Mittag nichts zu sehen war, ging ich davon aus, dass er seine Pläne wohl ad acta gelegt hatte. Umso überraschender war dann sein Auftritt um halb drei: Mit schläfrigen Augen hielt er mir das Prospekt von der Eisriesenwelt unter die Nase und sagte bloß "Call him! I want to go!". Ich unterließ sämtliche Erklärungen, sagte nur "okay" und griff zum Hörer. Der Taxiunternehmer erzählte mir wieder von den ungeheuerlichen Wartezeiten in Werfen, und dass er gerne bereit sei, einen Fahrer zu schicken, er aber dem Gast nicht garantieren könne, dass er auch tatsächlich in die Eishöhle hinein könne. Ich übersetzte das dem Gast in der Form, dass es heute unmöglich sei, nach Werfen zu fahren, weil dort derartige Menschenmassen auf den Einlass in die Eishöhle warteten, dass mit Wartezeiten von bis zu drei Stunden gerechnet werden müsse. Es sei für ihn deshalb in Anbetracht der momentanen Uhrzeit und eingerechneter Fahrzeit ein Ding der Unmöglichkeit, heute noch die Eisriesenwelt zu bestaunen.

Daraufhin blickte mich der Gast enttäusch an und fragte: "But when should I go?" Mit meiner Antwort, dass es umso besser sei, je früher man diesen Ausflug startete, war er sichtlich unzufrieden. Trotzdem versicherte er mir, sich für den morgigen Tag alle Mühe zu geben, zeitiger aufzustehen, denn er wolle unbedingt diese Eisriesenwelt besuchen.

So staunte ich nicht schlecht, als der Schläfer am nächsten Tag zwar nicht zum Frühstück erschien, aber doch um elf Uhr an der Rezeption stand und mich abermals bat, das Taxi zu rufen. Ich tat wie mir geheißen und freute mich ein bisschen für ihn, denn man sah ihm deutlich an, welch große Mühe ihm das frühe Aufstehen bereitet hatte. Als das Taxi dann vor der Türe stand und er mit seiner Frau das Haus über die Treppe hinab verließ, schien es, als müsste er sich bei ihr einhaken, so schwächlich war er aufgrund des Schlafentzugs auf den Beinen.

Das Fazit seines Ausflugs fiel dann nüchtern aus: "Very nice, but very crowded. We had to wait soo long!" Die Erleichterung aber, dass er es in die Eishöhle geschafft hatte, stand ihm doch ins Gesicht geschrieben. Da es der Tag vor seiner Abreise war, ließ er mich noch wissen: "Please, tomorrow you wake me! Call me at nine o'clock. And if I'm not down here at 9:15, knock on my door!" Sein ehrliches Bemühen rührte mich fast ein wenig und ich versprach ihm, ihn am nächsten Morgen zu wecken.

Zu meinem Erstaunen verlief die Abreise problemlos, denn tatsächlich fand sich der Schläfer um viertel nach neun an der Rezeption zum Check-Out ein. Er lobte unser Haus und die Region, sagte, es sei sein bisher schönster Urlaub gewesen, ganz besonders aber lobte er die Betten, die ihm so gute Dienste erwiesen hatten. Bei der Verabschiedung gaben wir ihm noch den Rat mit auf dem Weg, er möge doch beim nächsten Mal ein wenig früher aufstehen, dann könne er auch ein bisschen was unternehmen, schließlich habe er es während seines 6-tägigen Aufenthalts gerade einmal auf das Kitzsteinhorn geschafft und für die Eisriesenwelt ganze drei Anläufe benötigt.
Daraufhin lachte seine Frau ein Lachen, das man nur herzlich nennen kann, und schnatterte ihm etwas auf Arabisch zu, von dem wir nur zu gern gewusst hätten, was es bedeutete. Sein Gesichtsausdruck aber ließ uns in der Gewissheit zurück, dass sie uns wohl Recht gegeben hat.

2 Kommentare:

  1. Nachdem mich zum wiederholten male Arabische Gäste gefragt haben ob ich ein Nemsa bin. Wollte ich wissen was Nemsa (Österreicher) eigentlich wörtlich übersetzt heißt ? Er konnte es mir nicht sofort beantworten und kam ein paar Abende später zu mir ins Geschäft und erklärte mir, das Nemsa - das schlafende Volk bedeutet ! Passt irgendwie zu deinem wieder mal genialen Artikel !

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  2. Vielen Dank, Bernhard, für diese erhellende Anmerkung! Es kommt also wieder einmal auf den Blickwinkel an... ;-)

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